Kurt W. Streubel (1921–2002)
Versuch einer Beschreibung


Vermittlung einer Vorstellung durch Angabe von Einzelheiten


"Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.
Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist".


Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften,
Verlag Volk und Welt, Berlin 1975, Bd. 1, Kapitel 4, S. 18



Robert Musil spricht von einem mit solcherart schöpferischen Anlagen Versehenen als von einem „Möglichkeitsmenschen“ und davon, dass ein solcher Mann keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit sei.
Kurt W. Streubel verkörpert in meiner Erinnerung exemplarisch einen solchen Möglichkeitsmenschen, und der Versuch, ihn zu beschreiben, wird Eindeutiges nicht nennen können. Zu disparat, zu facettenreich stellt er sich mir dar, zudem unberechenbar im Umgang mit Menschen. Dem praktischen Leben gegenüber gleichgültig bis zur Spleenigkeit, beging er Handlungen und bewegte in sich Gedanken, die ihm etwas anderes bedeuteten als anderen.

Selten habe ich einen Menschen wie ihn erlebt. Er war wie ein Vulkan, der gleichsam feuerspeiend, eruptiv seine Umgebung in ständiger Spannung hielt und seine Mitwelt wie ein Lavastrom geradezu niederwalzte. Mit ihm in der Diskussion oder in den fortwährenden stunden- und tagelangen, oft auch nächtlichen Debatten, ergaben sich Szenen geistiger Anspannung, skurriler Ideenfindungen, verrücktester Planungen, ernsthaften Hinterfragens, aber auch Szenen eines ausufernden Humors.


Freunde lernen sich kennen und schätzen

Den Maler, Graphiker und Schrift-Steller Streubel, der aus dem multikulturellen Böhmen stammt, lernte ich 1962/63 in Gotha kennen. Zu diesem Zeitpunkt war ich als Dirigent im Staatlichen Sinfonieorchester Thüringen, mit Sitz in Gotha, tätig. In diesem Orchester war Streubels Frau Lia als Geigerin verpflichtet. Eine Begegnung mit Streubel ergab sich fast folgerichtig.
Durch diese Begegnung begann zwischen Streubel und mir ein Verhältnis, geprägt durch Missverständnisse, sprachliche zumal, über Farbe und Ton, Form und Klang, Struktur und Komposition, aber auch die Übereinstimmung auf eine wohl abgestimmte Disharmonie und die Akzeptanz Gleichgesinnter.
Von Streubel selbst habe ich, nebenbei bemerkt, kaum jemals einen zu Ende gesprochenen Satz gehört.
Er, der ständig, wie er selbst sagte, in 32 Potenzen - 32 eine literarische Zahl - dachte, suchte nahezu sprunghaft sprachlich das Weite, wenn ihm sein eigenes Denken zu eng wurde.
Von ihm wurden Sprache, Farbe, Form, Linie, Klang, Silbe, Buchstabe, alles bis ins Detail seziert. Seine Sprach- und Wortfetzen, seine Typographien sprechen unmissverständlich missverständlich alles und nichts aus.
Von ihm, einem leidenschaftlichen Verfechter des Dadaismus, stammt der Satz:
"Ehe DADA da war, war DADA da."


Als Beispiel seiner Sprachkomposition mag hier
"eine stunde m e d i t a t i o n in l- tag"
stehen, eine Art Lautgedicht: (kleiner Ausschnitt)






"Antioper“ - ein skurriler Gedanke und seine Entwicklung

Bei der gemeinsamen Arbeit an der Restaurierung unserer Wohnung 1967, Am Bahnhof 3 in Suhl, fragte mich Streubel einmal:
"An was arbeitest du zur Zeit?"
Ich sagte zu ihm: "Eigentlich möchte ich eine Oper schreiben, aber es ist schwer, ein Sujet oder ein Libretto zu finden. Ich möchte keine Oper schreiben so wie am Bolschoi-Theater, oder bei Lortzing, wo die Sänger ´rüber und nüber´ singen: Ich lieb dich, du liebst mich, wir lieben uns…. usw."
Da meinte Streubel: "Ja, das kotzt mich genauso an!"
Dann sagte ich: "Ich dachte an James Joyce 'Ulysses', das letzte Kapitel, in dem die Marion Bloom ohne Interpunktionszeichen, im Bett liegend, ihr Leben, ihre Gedanken an sich vorüberziehen lässt. Dazu müsste ein hervorragender Mezzosopran diese Rolle singen. Auf der Bühne nur ein eisernes, altes Bettgestell und im Hintergrund einige Projizierungen. Alles ganz nüchtern und sparsam."
Das gefiel ihm ganz gut. Wir redeten noch eine Weile über "Oper", dann sagte ich plötzlich: "Eigentlich müsste man eine 'Antioper' schreiben."
Da spürte ich, wie bei ihm die "Neutronen" durch sein Gehirn wirbelten.
Ende November 1970 kam er wieder einmal nach Suhl. Er knallte mir eine Mappe auf den Tisch und sagte: "Schau dir das mal an!" Ich schau in die Mappe, sehe Texte, Grafiken, ja sogar Regieanweisungen.
Die "Antioper" war geboren!

Nach einigem blättern in dem Material sagte ich zu ihm: "Ich schau mir mal die Texte an. Wenn Texte dabei sind, die man in Musik umsetzen kann, werde ich einige Songs schreiben."
So kam es auch, aber mit Schwierigkeiten: Jede Komposition mussten wir beim Komponistenverband und bei der AWA (Anstalt zur Wahrung von Aufführungsrechten) anmelden. Wie sollte ich diese Songs nennen? Die Texte waren zum Teil politisch hochaktuell, aber auch brisant, wenn nicht sogar politisch missverständlich und konnten falsch ausgelegt werden. Bei der Titelsuche zu den Songs kam ich auf die Idee, sie „8 mehr oder weniger politische Songs “ zu nennen. Diese Songs sind im Verband weder hinterfragt - was üblich war - noch vorgestellt oder diskutiert worden. Sie wurden einfach unter den "Teppich gekehrt".


Einer der Songs sei hier präsentiert:




Streubels Freundschaft zu mir war allseits bekannt. Man befürchtete in diesem Zusammenhang immer einen gesellschaftlichen oder politischen Eklat.


Streubels frühe Lebensphase und Lebensentwicklung

Seine geistige Haltung und Einstellung, vom Bauhaus herkommend, zwang ihn, sich nach kurzer Zeit von seinen Lehrern und einem Studium an der Hochschule für Bildende Kunst zu trennen. Er verfolgte seinen ausgesprochen individuellen Weg, um in die Kunst der visuellen Gestaltungsformen zu gehen. Während der Zeit von 1947 – 49 müsste er Karl Meusel (1912 – 1986) kennen gelernt haben. Am Boxberg bei Gotha unterhielten die beiden ein gemeinsames Atelier. Aus dieser Zeit besitze ich eine Kohlezeichnung "Thüringen – landschaftlich" (1949), welche vom Boxberg aus gesehen einen wunderschönen Blick auf den Inselsberg darstellt und Streubels abstraktes Empfinden für Form und Gestaltung vorwegnimmt.





Thüringen (landschaftlich) 1949
(Blick zum Inselsberg)




Streubels Leben muss in seiner Jugendzeit, also nach dem Krieg, von einer nicht zu beschreibenden Beweglichkeit und Dynamik durchsetzt gewesen sein, verbunden mit persönlichen dramatischen Akzenten, aber auch mit einer ganz eigenen Renitenz gegen alles und jedes. Von den vielen skurrilen Begebenheiten aus dieser Zeit möchte ich hier nur seinen Auftritt bei einer SED- Kreisparteikonferenz schildern:

Streubel, einer der ersten Genossen der SED in Gotha, nahm an dieser Parteikonferenz teil. Nach kurzer Zeit reichte es ihm, wie die "Genossen" über Marx, Lenin und den
Sozialismus "quatschten" (so Streubel zu mir). Er trat einfach unaufgefordert an das Rednerpult und rief den verdutzten Genossen zu: "Was quatscht ihr hier immer von Marx, Lenin und so..."“ Er rief ihnen lauthals zu:

" I c h  b i n  L e n i n !!! "       

Sprach’s - und verließ unmittelbar den Saal. Die Folge: sein sofortiger Ausschluss aus der Partei.





Parteiversammlung / Schmutzige Wäsche 1951





Ausschluss aus dem Verband Bildender Künstler

Mit seiner 1949 entstandenen Pinselzeichnung "Kosmische Komposition", die mit anderen neun Arbeiten 1950 in einer juryfreien Ausstellung in Gotha gezeigt wurde, begann Streubels politisches, persönliches und damit in gewisser Weise auch sein künstlerisches Fiasko. Wiewohl diese Arbeiten ungemein wichtige und bedeutende Entwicklungsstufen in seinem Schaffen markierten, ja geradezu exemplarisch Ausdruck seines künstlerischen Wollens darstellten, dienten sie den Protagonisten jener unseligen Formalismus - Realismus – Diskussion als Belege künstlerischen und politischen Versagens. Die Folge war der Ausschluss aus dem Verband und damit eine gesellschaftliche Isolierung. Keine Aufträge, zu keiner Ausstellung mehr zugelassen, sozusagen "kaltgestellt", musste Streubel sich durch das Leben schlagen.

In dieser Zeit, meine ich, entwickelte sich in der ehemaligen DDR das so genannte "Orwellsche Zwiedenken". Orwells Roman, 1948 geschrieben und "1984" betitelt, gilt als eines der bedeutendsten Bücher über den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts. Die Künstler unseres Landes arbeiteten damals einerseits für den angeordneten "Sozialistischen Realismus", zum anderen – und nicht wenige - ausschließlich für die eigene "Schublade".
Streubels Leben und Schaffen war hierfür ein signifikantes Beispiel. Für ihn gab es keine Möglichkeit sich zu präsentieren, sich bekannt zu machen, oder an Ausstellungen teilzunehmen. Er war mittellos und finanziell abhängig von seiner Frau. Lediglich Gönner und Freunde, die Arbeiten von ihm privat kauften, halfen über die prekärsten Situationen hinweg.
Möglicherweise waren es aber auch oder gerade diese Umstände, die Streubels Eigenständigkeit, seinen Eigensinn und seine künstlerische Eigen-Art prägten. Die Folge der Vorgänge um jene juryfreie Ausstellung war, wie gesagt, der Ausschluss aus dem Künstlerverband. Erst 1979 kam Streubels Wiederaufnahme zustande, bewirkt durch Appelle einiger Zeitgenossen.


Zusammenarbeit mit der Suhler Philharmonie

Während meiner Tätigkeit beim Staatlichen Sinfonieorchester Suhl kam es zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit. Alle Drucksachen: wie Plakate, Programmhefte, persönliche Prospekte, Druck- bzw. Gestaltungseffekte, die ich benötigte, gestaltete Streubel. Dabei legte er meist drei gültige Entwürfe vor, die wir natürlich aus Kostengründen alle verwenden konnten und mussten, einfach weil sie immer alle gut waren. Er gestaltete auch die von mir in Hildburghausen und Suhl eingeführten Orchesterbälle (Faschingsbälle) mit Dekorationen, welche aus dem allgemein gewohnten und gebräuchlichen Rahmen heraus fielen. Anlässlich eines Orchesterballes - ich meine es war 1968 - wurden einige dieser Dekorationen mit vermeintlich politisch brisanten Dekors von „Kreisleitungsgenossen“ hinter unserem Rücken abgehängt. Dies rief unsererseits Proteste hervor und wurde dementsprechend beantwortet. Wir - Streubel, die Solisten des Abends und ich - verließen nach dem üblichen Programmteil ostentativ den Saal. Wir demonstrierten damit gegen die Unverfrorenheit und Unverschämtheit der Partei und deren Eingriff in das persönliche Ideen- und Urheberrecht. Wahrscheinlich hatte schon das Plakat für diesen Orchesterball Anlass für "erhöhte Wachsamkeit" gegeben. Aus einer "Weinlaune" heraus hatten wir uns den Plakattitel und das Motto erdacht, es lautete: "egum tararara dudum".
Ein Plakat unter diesem Motto, 1968 in der DDR?

1969 komponierte ich, gemeinsam mit Hans-Jürgen Thiers, das Oratorium "Der Mensch", nach Texten des litauischen Dichters Eduardas Miezelaitis. Hierzu schuf Streubel ein graphisch gestaltetes Titelblatt. Dieses drucken zu lassen, wurde seitens staatlicher Behörden (Rat des Bezirkes und der Partei) regelrecht verboten. Innerhalb meiner mir selbst angemaßten Befugnisse ließ ich 100 Stück illegal herstellen. Sie sind noch heute ein einmaliges Dokument und beweisen, dass man auf die ein- oder andere Art und Weise das staatliche Reglement umgehen konnte.





Vom Rat des Bezirkes Suhl nicht genehmigte
Graphik für das Programmheft "Der Mensch" 1969





Private Kunstausstellung in unserer Wohnung


Ein besonderer Höhepunkt in unseren Beziehungen war die im Mai 1976 von Streubel und mir inszenierte Privatkunstausstellung in unserer Wohnung in Suhl. Diese Wohnung hatte ich von 1967 bis 1968 gemeinsam mit Streubel renoviert bzw. restauriert und gestaltet. Streubels Hauptanteil war die farbliche und raumgestalterische Ausrichtung. Durch die künstlerische Farbgestaltung, aber auch durch das eigens hergestellte Mobiliar wurde diese Wohnung nicht nur ein angenehmer Lebens-Raum, sondern eine angemessene Begegnungsstätte. Die bei uns verkehrenden Künstler, national und international - ich lud sie grundsätzlich immer auch privat ein - waren begeistert von Streubels Geschmack, Farbnuancierungen und der räumlichen Aufteilung. Der Abend hatte zwei Schwerpunkte, die von uns und unserem Helfer, Siegfried Seiffert (Altenburg), geplant und besonders ausgeklügelt waren.
An diesem Abend dirigierte ich eines der traditionellen Suhler Sinfoniekonzerte. Auf dem Programm standen Mozarts „Pariser“ Sinfonie, KV 297, das Violinkonzert von Alban Berg, mit dem hervorragenden Solisten Manfred Scherzer (Berlin/Dresden) und eine Uraufführung meines tschechischen Komponistenfreundes Stepan Lucky: "Konzert für Orchester".
Zu Stepan Lucky muss gesagt werden: Die Nazis verhafteten ihn 1940 in Prag und verschleppten ihn nach Buchenwald in das Konzentrationslager. Er überlebte den Todesmarsch nach Worbis in das Außenlager "Mittelbau Dora".
Für uns war er nach dem Krieg und nach dem "Prager Frühling" 1968, trotz der Aversion gegen Deutsche, ein liebenswerter, zuverlässiger und treuer Freund. Diese Freundschaft hatte eine besondere Bedeutung, vor allem für mich, da ich einige seiner Kompositionen in Suhl aufführen konnte, vor allem sein erschütterndes Violinkonzert, welches er in Erinnerung an die erlittenen Qualen in Buchenwald komponiert hatte. Dieses Konzert beginnt mit einem Glockengeläut. Auf meine Frage, wieso er das Konzert mit einem Geläut an den Anfang stelle, sagte er zu mir, dass er, als er in Buchenwald war hörte er manchmal abends aus der Ferne Dorfglocken läuten gehört habe, dies hätte ihn an seine Heimat erinnert, und aus diesem Grund wolle er das in die Komposition einfließen lassen.

Zu dem Konzert und der Ausstellung hatten wir über 200 Einladungen in alle Welt verschickt. Vom ZK der SED, über das Ministerium für Kultur, den Kulturbund, die "örtlichen Organe", luden wir alles ein, was Rang und Namen hatte. Privat natürlich auch uns vertraute und bekannte Freunde und Persönlichkeiten. Nach der Popularisierung der Einladungen klingelten die Telefone zwischen Berlin und Suhl: Wer ist Streubel, wer Geißler, und wieso eine private Kunstausstellung in Suhl? Nach damaligen Gesetzen waren solcherart Veranstaltungen quasi generell verboten und untersagt. Sie kamen dem Versammlungsverbot nahe, und es stellte sich die Frage nach den staatlichen Genehmigungen. Zu dieser Werkausstellung waren dann schätzungsweise 70 Personen anwesend. Der einzige Offizielle, welcher offensichtlich im Auftrag der Bezirksleitung der "SED" gekommen war, war der damalige Kultursekretär Dr. Anschütz. Alle anderen "Funktionäre" besuchten zwar das Konzert, mieden aber diese private Veranstaltung, sicher aus Angst vor politischen Auseinandersetzungen und möglichen Repressalien. Die Laudatio auf Streubel hielt der renommierte Naturwissenschaftler Prof. Dr. mult. Joachim-Hermann Scharf, seines Zeichens: Director Ephemeridum der Akademie der Naturforscher "Leopoldina" Halle. Zum Thema und Tenor seiner Laudatio hatte er sich Streubels 1971 entstandenes Ölgemälde "Die Zeit" gewählt. Interessant und aufschlussreich war es damals für uns, wie unsere Besucher reagierten und wie ein Naturwissenschaftler moderne, abstrakte Kunst aus seiner Sicht betrachtete, sie interpretierte, mit ihr sprachlich umging und diese in sein naturwissenschaftliches Denken einbezog. Der gesamte Abend - das Konzert zum einen und die Ausstellung zum anderen - stellte nicht nur ein besonderes Ereignis dar, sondern war für Suhl und für die DDR gleichsam eine Sensation.


Zusammenleben in Suhl mit Streubel

Die Jahre unseres "Zusammenlebens" waren bis zum Rand gefüllt mit Bonmots, merkwürdigen Sentenzen, Eskapaden, sonderbaren Begebenheiten und Ereignissen. Vom Frühstück angefangen über die Arbeit hinweg bis in die Abendstunden, - die häufig über das Normale hinausgingen und nicht nur die Familie, sondern andere Anwesende strapazierten, aber auch zum Lachen brachten.

Streubels Begrüßungsspruch, wenn er zu uns kam, war das skurrile, dadaistische "Nombo Tombake".
Einmal kam er und sagte zu meiner Frau: "Heute werde ich mal nicht so viel reden, ich habe noch Herzschmerzen vom letzten Besuch bei euch. Wo ist Siegfried?" Streubel kam dann zu mir, zündete sich nach dem "Nombo Tombake" eine Zigarette an und sprach geschlagene 12 Stunden ununterbrochen zu mir. Ich hatte kaum eine Chance dazwischenzureden, mir gelang es, gerade mal drei bis vier Sätze einzustreuen. Dabei überstürzten und überschlugen sich seine Gedanken und seine Lebensgeschichten, so dass ich am Ende, ein wenig erschöpft, sein Leben fast besser kannte als er selbst. Man musste bei ihm Geduld aufbringen.


Skurrilitäten eines außerordentlichen Künstlers

Die Art seiner Situationskomik, die bei den Begegnungen mit ihm immer zu erwarten war, lässt sich heute kaum mehr schildern. Man musste ihrer stets gewärtig sein, und sie lässt sich nur im Zusammenhang wiedergeben.

Einmal saßen er, unser Sohn Moreen und ich in Gotha zusammen beim Mittagessen im vollbesetzten Ratskeller. Streubel fragte unseren damals 12- bis 13-Jährigen: "Na, was macht die Schule?"
Daraufhin Moreen unter anderem: "Wir mussten einen Aufsatz schreiben über die Angst. Ich wusste aber nicht, was ich schreiben sollte."
Streubel daraufhin laut wie immer: "Da hätt´ste halt geschrieb´n: Ich hab´ Angst vor d´n Russen."
Um uns herum war sozusagen "Funkstille".

Mit solchen und anderen Skurrilitäten könnte man Bände füllen.
Die DDR bezeichnete er einmal als "Katzenmörderstaat"! Ich fragte ihn, warum?
Seine Katze war tot. Er sagte zu mir:
"Stell dir mal vor, da stelln´se e´ Gerüst vor dein Haus. Da steht´s dann e´ halbes oder Dreivierteljahr. Gemacht wird nischt, aber die Katzen gewöhnen sich dran, im 2. Stock aus dem Fenster aufs Brett zu springen. Eines Tages ist das Gerüst weg! - Die Katzen hatten sich aber ans springen gewöhnt..."

Streubel sprach einen ganz eigenartigen Dialekt, welcher sich leicht böhmisch verbrämt anhörte. Sprachlich ein völlig vermurkster Stil, aber amüsant und köstlich anzuhören. Bei unseren gemeinsamen Restaurierungsarbeiten in unserer Wohnung – so ich Zeit hatte, ihm zu helfen – die immer bis in die späten Abendstunden dauerten - sagte er oft aus Spaß: "Ich liebe die Sonne sehr, aber nur nachts!"
Da wusste ich, aha, er möchte gern noch einen Kognak trinken. Also zogen wir los in die Thüringen-Tourist-Bar, die ca. 250- bis 300m von unserer Wohnung entfernt lag. Er trank gern französischen Kognak, rauchte dazu eine Orientzigarette, mit dem Goldrand als Mundstück. Ihm beim Rauchen zuzusehen war amüsant. Er streifte nie die Asche ab, sondern ließ sie solange an der Zigarette, bis die Asche entweder auf die Tischdecke – dann gab es immer eine „Brandloch“ – oder zu Boden fiel. Die letzte Kippe schob er von einem Mundwinkel zum anderen, bis zum letzten Zug. Bei einem dieser Barbesuche sagte er einmal zu mir: "Man müsste eigentlich eine Todesbar einrichten."
Daraufhin fragte ich ihn: "Wie stellst du dir das vor?"
Kurt sagte: "Du kommst in die Bar, kannst trinken, rauchen und huren, soviel du willst. Nur heraus kommst du nicht mehr. Niemals mehr! Du musst bis an dein Ende drin bleiben."
Ein skurriler Gedanke, amüsant und exzentrisch. Bei solchen Gedanken wehte ein Hauch des "sich Totlebens" mit, vielleicht auch – trotz seiner ungebrochenen Lebenslust – eine gewisse Müdigkeit eines ständig schöpferisch tätigen, vergeistigten Menschen.


Fragen der Kunst und der Wissenschaft

Die Frage, wie Kunst bewertet und betrachtet wird, und deren Verhältnis zur Wissenschaft, war ein ständiger Diskussionsgegenstand zwischen Streubel und mir. In vielen Gesprächen formulierten wir letztendlich – ich muss es hier auf eine Kurzform bringen -, dass Kunst und Wissenschaft grundsätzlich begrifflich und formal getrennt werden müssen:

Der Wissenschaftler kann nur die vorhandenen Gesetze erkennen, erforschen und interpretieren. Der Künstler hingegen schafft sich mit seinen Werken und durch diese seine eigenen Gesetze, und - nur die Kunst kennt die Ekstase.
Die Abstraktion in der Kunst ist eine der vielschichtigsten und vielseitigsten Gliederungen des Denkens, darüber gibt es nichts anderes.


Bei allen Diskussionen, die wir mit Freunden und Künstlern hatten, forderte diese einfache Formel Widerspruch heraus. Sie stiftete Verwirrung, fand aber auch vielerlei Zustimmung. Nicht zuletzt half mir die Erinnerung daran, später, in der Zeit nach der „Friedlichen Revolution“, während meiner politischen Tätigkeit im NEUEN FORUM und als Abgeordneter im Verfassungsausschuss des Thüringer Landtages, diese Positionen zu verteidigen und sie umzusetzen. Ihren Niederschlag fand sie in der Thüringer Verfassung insofern, als ich im Disput um Artikel 27 durchsetzen konnte, dass Wissenschaft und Kunst bewusst getrennt werden müssen. Diesbezüglich hat die Thüringer Verfassung als einzige in Deutschland keinerlei definitorische Einschränkung. Es heißt in Art. 27 (Satz 1) explizite:
"Kunst ist frei. Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei …" usw.
Ein wichtiger gesellschaftspolitischer Aspekt und für die Künstler ein nicht zu unterschätzender gewonnener Freiraum.


Beginn der Nach-Streubelschen Zeit

Mit meinem Ausscheiden 1980 als Chefdirigent der Suhler Philharmonie änderte sich zunächst nichts in meinem Verhältnis zu Streubel. Durch die Aufgabe meiner Position hatten wir zwar weniger beruflich miteinander zu tun, unser freundschaftliches Verhältnis bestand aber weiterhin. Für das Orchester selbst und dessen neue Leitung war dies etwas anderes. Sie hatten zu Streubel und seinen Arbeiten immer schon ein gespaltenes Verhältnis, so dass eine Entfremdung nicht ausbleiben konnte. Mein Nachfolger, Claus-Peter Flor, ein hochbegabter junger Dirigent, welchen ich zu meiner Zeit besonders förderte, brachte es 1981 zustande, dass meine 6. Sinfonie (Farb-Klang-Realismen), welche ich Kurt-W. Streubel gewidmet hatte, in Suhl aufgeführt wurde. Diese Uraufführung war noch einmal ein wichtiger Anlass für unsere freundschaftliche Beziehung. Streubel überreichte mir am Schluss des Konzertes ostentativ in aller Öffentlichkeit seine mit "Ankunft" betitelte Grafik und brachte damit unsere Verbundenheit zum Ausdruck.

Eine der wenigen Gelegenheiten, mit Streubel in der Öffentlichkeit aufzutreten, war der "Heinrichser Hofsommer". Als Mitinitiator desselben, welchen wir ab dem berühmten Orwell-Jahr 1984 gemeinsam mit einer jungen Suhler Künstlergruppe durchführten, befasste ich mich u.a. mit elektronischer Musik und mit Laser-Licht-Effekten. Dieser alljährlich stattfindende „Heinrichser Hofsommer“ war als Gegenausstellung zu den "Kunstausstellungen" des Bezirkes Suhl gedacht und provozierend, damit auch protestierend, von dieser Gruppe inszeniert worden. Zu diesen stets gut besuchten „Hofsommern“ hatten junge Künstler die Möglichkeit, Werke zu zeigen, die in den "offiziellen" Ausstellungen vom Verband und den Staatsorganen nicht angenommen worden waren.
Zu solch einer Ausstellung konnte ich Streubel bewegen, noch einmal nach Suhl zu kommen, um an den Diskussionen teilzunehmen.
Danach kühlte sich unser Verhältnis mehr und mehr ab.
Zeitgründe und politisches Engagement meinerseits, meine Tätigkeit im Bürgerkomitee des Landes Thüringen bei der "Stasiauflösung" und im bereits erwähnten NEUEN FORUM dessen Spitzenkandidat ich 1990 war, ergaben den Anlass hierfür. Meine politische Tätigkeit im ersten frei gewählten Thüringer Landtag als Abgeordneter und erster Alterspräsident hinderte mich daran, unser altes Verhältnis aufrechtzuerhalten.


Neue Demokratie und eine unvollendete, friedliche Revolution

Für mich, der ich bereits nach 1945 ebenso wie Streubel an eine wahrhafte Erneuerung der Demokratie in Deutschland glaubte und enttäuscht wurde, verband sich mit der politischen Umwälzung 1989 die Hoffnung, dass nunmehr eine politische Renaissance 1990 gelingen möge. Zu dieser Zeit hätte ich mir den nach wie vor in Gotha lebenden Streubel als Gegenpol zu allem sich Vollziehenden, als ausgesprochenen "Antipoden", sehr in meiner Nähe gewünscht. Mit seiner Fähigkeit der kritischen Provokation und dieser Lust am ungezähmten, realistischen Bezeichnen der Dinge wäre er ein
dynamisch konstruktiver Partner gewesen. Leider war dem nicht so. Er zog sich, wider jede Erwartung, mehr und mehr zurück.
Wir, die wir hier im ehemaligen Bezirk Suhl lebten spürten mehr die Macht des SED-Apparates und der Stasi durch den Grenzbezirk. Überwachungs- und Kontrollsysteme für den gesamten westlichen Luftraum, vom Ellenbogenberg bei Frankenheim, über die Gleichberge bei Römhild bis nach Steinheid war alles unter Kontrolle. Dazu das Spionagezentrum zwischen Römhild und der Staatsgrenze. Außerdem die Zwangsaussiedlung entlang der Thüringer Grenze, all dies – für die Bevölkerung nicht bekannt – wurde zum Pulverfass, als die „friedliche Revolution im Oktober 1989 begann. In Suhl fand am 4. November eine erste große Demonstration, mit ca. 30 000 Menschen statt. Der Höhepunkt war dann die Erstürmung der sog. "Stasiburg" am 4. Dezember 1989. Der südwestlichste Teil der DDR hatte in seiner militanten Ausrichtung und Auswirkung eine besonders hohe Brisanz für die vermeintliche Sicherheit des Staates.
Umso mehr wünschte ich mir zu dieser Zeit Partner, die sich noch intensiver und aktiver mit einbezogen hätten in eine Bewegung, die wir kaum mehr ein zweites Mal erleben werden..
Trotzdem bin ich stolz darauf, dieses "Multiversum" Kurt W. Streubel kennen gelernt, mit ihm aufregende und erregende Jahre verbracht zu haben. Sie waren gleichermaßen vom Denken und vom Tun her revolutionär in dem Sinne, dass sie den "Staat" in einer Weise beschäftigten den er sich so nicht vorstellte und der auch nicht erwünscht war, weil er unter die Kategorie "Konterrevolution" eingestuft wurde.
Eine letzte Begegnung fand am 6. Oktober 2002 anlässlich der Kunstausstellung meiner Privatsammlung in der Comptoire-Galerie in Sonneberg statt.





Streubel / Geißler "Letzte Begegnung am 6. Oktober 2002
anläßlich der Kunstausstellung in der Comptoire-Galerie Sonneberg"




Kurz darauf, am 8. Dezember 2002, verstarb Streubel in Weimar in der Seebach-Stiftung, die ausschließlich alternden Künstlern zugedacht war.
Die vielfältigen Ereignisse und Erlebnisse, vor allem mit und durch Streubel, die sich parallel immer als provokant herauskristallisierten, sei es im Leben, in der Kunst oder in der Politik, gaben meinem Leben, das ausschließlich von der Kunst geprägt war, einen besonderen Impetus.
All dies vor dem Hintergrund der eigenen künstlerischen Arbeit, des eigenen Schaffens, den politisch wahrzunehmenden Aktualitäten des Alltages, der Verantwortung für die Familie und der Verantwortung für einen Kultur- und Kunstbetrieb.


(Bilder u. Inhalte, mit freundlicher Genehmigung des Comptoir-Kunstmagazin, Städtische Galerie Sonneberg, Frau Reinhild Schneider)